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Anschläge auf afghanische Bildungseinrichtungen [de]

Afghanistans Akademiker im Kreuzfeuer

Der jüngste Anschlag auf die Universität Kabul hat Verzweiflung unter afghanischen Akademikern ausgelöst. Mit einem Solidaritätsschreiben setzen sich Wissenschaftler aus aller Welt für ihre afghanischen Kollegen ein, die unter den Bedingungen von Krieg, Gewalt und Unsicherheit lernen und lehren. Einzelheiten von Marian Brehmer

Der November begann blutig für die afghanische Academia. Am 2.11. stürmten drei Attentäter die Jura-Fakultät der Universität Kabul und feuerten wahllos auf Studenten und Lehrkräfte. Während der sechsstündigen Belagerung wurden 35 Menschen ermordet und Dutzende weitere verletzt, während die afghanischen Sicherheitskräfte damit rangen, Tausende von Studenten zu schützen und gleichzeitig die Angreifer auszuschalten.

Der Anschlag war der zweite auf eine afghanische Bildungseinrichtung innerhalb von nur zwei Wochen. Bereits Ende Oktober sprengte sich ein Selbstmordattentäter des IS vor dem Eingang eines Bildungszentrums in die Luft. Der Angriff, bei dem 43 Schüler im Teenageralter ums Leben kamen, ereignete sich im leidgeplagten, mehrheitlich von überwiegend schiitischen Hazaras bewohnten Stadtteil Dasht-e Barchi, in dem zuvor mehrere Moscheen, ein Wrestling-Club und zuletzt im Mai sogar ein Geburtskrankenhaus angegriffen wurden.

Während der afghanische Ableger des IS den Angriff auf die Universität Kabul für sich in Anspruch nahm, geht die Regierung in Kabul jedoch davon aus, dass das für seine Brutalität bekannte und mit den Taliban verbundene Haqqani-Netzwerk dahinter steckt. Wer auch immer das Blutbad zu verantworten hat, eindeutig scheint seine perfide Botschaft: Der Anschlag richtete sich, ähnlich wie zuvor Angriffe auf andere Universitäten wie die American University of Kabul oder die Polytechnische Universität, gezielt gegen die jungen Hoffnungsträger des Landes, die eines Tages die Geschicke ihrer Heimat verändern könnten.

Fatales Signal: Bildung kann lebensbedrohlich sein

Unter den Getöteten war nach einem Bericht des Fernsehsenders Al Jazeera auch Mohammed Raul Arif, ein 23-jähriger Student, der davon überzeugt war, eines Tages seinem Land dienen zu können. Obwohl seine Eltern ihn überreden wollten, im Ausland zu studieren, blieb er in Afghanistan. Dafür musste Arif nun sein Leben lassen. Solche tragischen Schicksale senden ein fatales Signal an die afghanische Jugend und ihre Eltern: Bildung bedeutet Unsicherheit und Schon nach wenigen Tagen nahm die Uni wieder ihren normalen Betrieb auf, doch die Stimmung ist von Hoffnungslosigkeit geprägt. “Solche Anschläge haben sich inzwischen so oft wiederholt, dass sie für die Menschen wie zur Gewohnheit geworden sind”, sagt Hussain Tawfiqy, Student an der philosophischen Fakultät der Universität Kabul. “Dennoch war der Anschlag ein schwerer Schock für die Studenten.”

Die Kabul University, die 1931 unter der Regierung von Mohammed Nadir Shah gegründet wurde, ist eine der ältesten und renommiertesten Universitäten des Landes. Sie hat 25 000 Studenten, von denen fast die Hälfte Frauen sind. Der Hochschule kommt damit eine wichtige Rolle in der Ausbildung künftiger Generationen von Fachkräften in Afghanistan zu.

Im Wissen um die Grausamkeit und zerstörerische Symbolkraft des Anschlags unterzeichneten nun 350 Akademikerinnen und Akademiker aus den Vereinigten Staaten, Europa, Südasien und Australien ein auf der Website des “Afghanistan Center” veröffentlichtes Solidaritätsschreiben, das von den Wissenschaftlerinnen Mejgan Massoumi (Stanford University) und Munazza Ebitkar (Universität Oxford) initiiert wurde.

In der Erklärung, die unter anderem von Noam Chomsky unterschrieben wurde, heißt es: “Als internationale Wissenschaftler sind wir empört über die Angriffe auf Universitäten und Bildungseinrichtungen in Afghanistan. Wir sind solidarisch mit den Familien der Opfer und mit allen Afghanen, die ihr Leben riskieren, um ihre Ausbildung unter den Bedingungen von Krieg, Gewalt und Unsicherheit fortzusetzen.”

Außerdem fordert das Schreiben die afghanische Regierung, die internationale Gemeinschaft sowie die in Afghanistan tätigen Nichtregierungsorganisationen dazu auf, die Verantwortlichen hinter den Attacken auf Bildungseinrichtungen zur Rechenschaft zu ziehen, ihre Quellen der Unterstützung trocken zu legen, Lehrer und Lernende besser zu schützen und alle Kriegsparteien in Afghanistan dazu zu drängen, im Kampf zivile Leben zu respektieren und zu schützen.

Afghanische Kollegen fühlen sich allein gelassen

Zu den deutschen Unterzeichnerinnen gehört Annika Schmeding, Junior Fellow der Harvard Society of Fellows, die jahrelang Feldforschung in Afghanistan betrieb. “Solidarität mit den Opfern und Überlebenden zu bekunden ist das mindeste, was wir tun können”, sagt Schmeding. “So ein Brief zeigt, dass – auch wenn Nachrichten im Westen schnelllebig kommen und gehen – die Ermordung von Zivilistinnen und Zivilisten in Bildungseinrichtungen nicht zur Normalität werden darf. Ich glaube, dass viele afghanische Kolleginnen und Kollegen sich allein gelassen fühlen in einer hoffnungslos scheinenden Situation, die vom Westen mitinitiiert wurde.”

Im Februar unterzeichnete die US-amerikanische Regierung einen Friedensvertrag mit den Taliban mit dem erklärten Ziel, die amerikanischen Truppen zum großen Teil noch vor dem Ende von Trumps Amtszeit abziehen zu wollen. Doch trotz des andauernden Friedensprozesses zwischen der US-Führung und den Taliban nahm die Gewalt gegen Zivilisten in der zweiten Jahreshälfte noch einmal kräftig zu. Allein in den vergangenen sechs Monaten verübten die Taliban hauptsächlich in den Provinzen 53 Selbstmordattentate und 1250 Bombenangriffe, bei denen 1210 Zivilisten getötet und etwa doppelt so viele verwundet wurden.

Während US-Außenminister Mike Pompeo am Wochenende mit Vertretern der Taliban zusammentraf, beschoss der IS Kabuls hochgesicherte “Green Zone”, in der sich Ministerien und ausländische Botschaften befinden. Wieder gab es zehn Tote.

Warum kommt Afghanistan also nicht zur Ruhe? Tatsächlich scheinen sich die führenden Kräfte der Taliban, die oft seit vielen Jahren im pakistanischen Exil leben, schwer damit zu tun, die Kampfhandlungen anzuhalten. Die Funktionäre wüssten, wie der afghanische Journalist Mujib Mashal von der New York Times berichtet, oft wenig über die Zustände am Boden und die Motivation ihrer Kämpfer. Die oft jungen Taliban-Rekruten hätten in den letzten Jahren in ihren eigenen Reihen erhebliche Verluste erlitten und wollten nun nicht einfach ihre Waffen niederlegen. Ihr erklärtes Ziel sei die Wiedereinrichtung eines Taliban-Emirats, ihr Kampf nicht in erster Linie ein Kampf gegen ausländische Besatzungsmächte, sondern gegen ein in ihren Augen korruptes Staatssystem.

Für viele Afghanen werden die Friedensverhandlungen angesichts der nicht abreißenden Gewalt zunehmend zur Farce. Der Vater von Hanife, einer der getöteten Studentinnen an der Uni Kabul, schilderte der Zeitung Hasht-e Sobh (“Acht Uhr am Morgen”), wie er im Krankenhaus versuchte, seine Tochter unter den Leichen zu identifizieren. “Ich wünschte, ich könnte den leblosen Körper meiner Tochter nach Doha bringen, ihn auf den Verhandlungstisch legen und sagen: ‘Das ist die Realität im heutigen Afghanistan.’ Den blutigen Körper eines jungen Mädchens, das 1001 schönen Wünsche hatte, aber getötet wurde, damit ihr verhandeln könnt. Wie soll ich an so einen Frieden glauben?”

Marian Brehmer

© Qantara.de 2020

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