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Flucht und Vertreibung [de]

Flucht und Vertreibung … im Sommer 2015 das Thema ‚Displacement‘ für diese Ausgabe (Sommer 2016) gewählt wurde, war bereits absehbar, dass dies das Thema unserer Epoche ist. Aber es war noch nicht klar, wie brisant sich die Flüchtlingskrise und die Reaktionen darauf in den folgenden Monaten bis heute entwickeln würden.

Zugleich besteht bei einem solchen Thema für eine ‚langsame‘ halbjährliche Zeitschrift wie unsere immer die Gefahr, zu spät zu kommen, wenn das Thema so aktuell ist, dass alle anderen schon längst darüber geschrieben haben. Und tatsächlich mussten wir uns fragen, ob zur Flüchtlingskrise nicht schon alles gesagt worden ist; ob es dazu überhaupt noch neue, andere Stimmen zu entdecken gibt. Aber zu unserer eigenen Überraschung haben wir festgestellt: Ja, es ist dazu noch viel zu sagen. Und auch von vielen Menschen, die in dieser Sache noch nicht den gebührenden Raum in der Öffentlichkeit bekommen haben. Kennen Sie zum Beispiel schon Bakhtiyar Ali? Dieser große kurdisch-irakische Autor, der in seiner Heimat ein Star ist, lebt seit vielen Jahren von den Deutschen unbemerkt in Köln und kann uns wie kein Zweiter erklären, was es für die Flüchtlinge und für die Gesellschaften, die sie aufnehmen, bedeutet, ‚displaced‘ zu sein, das heißt auf der Flucht – innerlich und äußerlich.

Wir lernen von Bakhtiyar Ali auch, dass ‚Flüchtling‘ ein innerer Zustand ist. Dieser Zustand bleibt in den Menschen, auch wenn diese schon lange keine Flüchtlinge mehr sind. Das könnten übrigens auch die Deutschen aus ihrer Geschichte wissen, wie Barbara Lehmann schreibt. Aber wollen sie diese Lektion heute noch hören? Auch die deutschen Autoren mit manchmal noch fremden Namen wie Steven Uhly, Rasha Khayat, Alem Grabovac, Amira El Ahl oder Stanisław Strasburger wissen von Erfahrungen gefühlter Fremdheit zu berichten. Auch wenn sich diese Autorinnen und Autoren als Deutsche fühlen, gibt es immer noch irgendwo jemanden, der sie aufgrund ihres Namens für fremd hält und ihnen damit signalisiert, dass sie vielleicht doch irgendwie anders sind. Man kann, wie Steven Uhly in seinem Beitrag, die berechtigte Frage stellen, ob das nur eine Vorstufe zum Rassismus oder selbst schon Rassismus ist. Klar wird dadurch jedenfalls, wie schwierig es für die jetzt ankommenden Flüchtlinge in Zukunft noch werden wird, wirklich akzeptiert zu werden und sich nicht mehr fremd zu fühlen, selbst dann, wenn sie sich noch so sehr bemühen, sich zu integrieren. Und wenn wir Bakhtiyar Ali glauben, sollte die Integration um jeden Preis gar nicht das Ziel sein, denn sie kann auch zu einem Verlust an Gedächtnis und Widerstandskraft führen.

Die Vorstellung vom Paradies Europa ist eine Illusion, mit der sich auch der Westen selbst betrügt, stellt Bakhtiyar Ali fest. Aber diese Vorstellung ist für viele auch eine Hoffnung, an der sie sich festhalten, bis sie schließlich in Europa angekommen sind und mit der Realität konfrontiert werden. Alfred Hackensberger beschreibt anschaulich, wie sich diese Hoffnungen in der marokkanischen Küstenstadt Tanger sammeln und wie die Menschen monatelang vergeblich versuchen, von dort auf dem gefährlichen Seeweg nach Europa zu gelangen, ein Europa, dass es wohl nur in ihrer Vorstellung gibt. Denn obwohl, wie Jochen Oltmer in seinem Beitrag beschreibt, Europa immer schon von Migration geprägt worden ist, hat sich das ‚Migrationsregime‘ heute doch grundlegend gewandelt. Dieses ‚Migrationsregime‘, nämlich die Versuche, die Migration politisch und militärisch zu steuern, gleich wie hoch der Preis auch sein mag, wird von Bernard Schmid in seinem Beitrag beschrieben. Somit wirft die Flüchtlingskrise die Frage auf, ob die westlichen Werte noch etwas gelten oder ob sie nur noch rhetorischen Wert haben.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre dieser außergewöhnlich spannenden Ausgabe von Fikrun wa Fann / Art & Thought!

Ihre Fikrun wa Fann-Redaktion

Copyright: Goethe-Institut e. V., Fikrun wa Fann

Juni 2016

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