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Erdogans Kurdenpolitik [de]

Repression als Wahltaktik?

Mit einer Verhaftungswelle erhöht die türkische Regierung den Druck auf die Kurden und ihre politischen Vertreter. Damit will sie sich womöglich für ihre Wahlniederlage 2019 revanchieren – und die Opposition spalten. Von Daniel Derya Bellut und Hilal Köylü

Die prokurdische Partei HDP hat bei den letzten großen Wahlen in der Türkei den Unterschied gemacht. Besonders die Kommunalwahlen im März letzten Jahres trugen zu ihrem Ruf als «Königsmacher» bei – so führte ein geschickter Schachzug der Partei zur ersten Wahlniederlage des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierungspartei AKP: Die HDP-Parteiführung stellte in einigen Städten keinen eigenen Kandidaten auf und rief ihre Wähler dazu auf, stattdessen dem Kandidaten der ebenfalls oppositionellen CHP ihre Stimme zu geben. Ohne kurdische Rückendeckung wäre der Wahlsieg der CHP in einigen türkischen Städten nicht denkbar gewesen.

Doch die Finte, die ihrem Oppositionspartner so sehr nutzte, sollte sich in den Folgemonaten für die eigene Partei schwer rächen. Allein in der vergangenen Woche wurden 17 HDP-Politiker verhaftet. Die Generalstaatsanwaltschaft von Ankara begründete die Verhaftungen überraschenderweise mit den Ausschreitungen rund um die nordsyrische Stadt Kobane im Jahr 2014.

Kobane: Beweise über Nacht?

Als vor sechs Jahren Kobane während des syrischen Bürgerkrieges vom «Islamischen Staat» (IS) belagert wurde, riefen kurdischen Gruppierungen – darunter auch die HDP – zu Protesten auf; so wurde etwa von der türkischen Regierung eine konsequentere Haltung gegenüber dem IS gefordert. Es blieb jedoch nicht bei friedlichen Demonstrationen. In mehreren Städten Südanatoliens kam es zu Tumulten, bei denen Dutzende Menschen ums Leben kamen. «Die Morde, versuchten Morde und Plünderungen» während der Ausschreitungen seien der Grund für die Haftbefehle, heißt es nun von der Staatsanwaltschaft.

Für Politologen und Rechtsexperten, die mit der DW sprachen, sind die Inhaftierungen mit Verweis auf die Kobane-Proteste ein weiterer Vorwand, um unliebsame Widersacher aus dem Weg zu räumen. «Welche Beweise sollen das sein, die über Nacht plötzlich aufgetaucht sind, sodass 82 Personen festgenommen werden können?», kritisiert die Anwältin Figen Calikusu von der CHP.

Neben den 17 HDP-Politikern waren in den vergangenen Monaten zahlreiche weitere Personen verhaftet worden. Diese Festnahmen seien «nicht im Rahmen der üblichen Ermittlungs- und Strafverfolgungsprozeduren» erfolgt, kritisiert die Oppositionspolitikerin. Der Politikwissenschaftler Burak Bilgehan Özpek bewertet die jüngste Verhaftungswelle ähnlich: «Es scheint, dass die Kobane-Vorfälle zu einem Instrument wurden, um die politischen Positionen der kurdischen Bewegung, der HDP und ihrer Verbündeten zu torpedieren».

Altes Spiel: Der Zwangsverwalter kommt

Seit ihrer Wahlniederlage im März 2019 erhöht die türkische Regierung kontinuierlich den Druck auf die HDP: In den meisten der 65 Gemeinden, in denen die prokurdische Partei einen Wahlsieg errungen hatte, wurden mittlerweile deren Bürgermeister und Gemeindevorstände entlassen und durch Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt. Der Partei sind nur sechs kleine Gemeinden verblieben. Viele der Geschassten befinden sich seit Monaten in Untersuchungshaft. Stets lautet der Vorwurf der türkischen Staatsanwaltschaft, dass es Verbindungen zur verbotenen Terrormiliz PKK gebe. Auch die ehemaligen Vorsitzenden der Partei Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag befinden sich seit 2016 trotz dürftiger Beweislast in Haft.

Der Politologe Baskin Oran von der Universität Ankara sieht in den häufigen Haftbefehlen gegen HDP-Politiker auch den Versuch, den «Vereinigungsprozess der Opposition» zu behindern. «Das Regime hat beschlossen, irgendwelche alten Akten heraus zu kramen, um eine Einigung zu sabotieren.»

Kurdenfrage: Alles Wahltaktik?

Der Opposition, die in der Vergangenheit häufig entlang ideologischer Grenzen gespalten war, ist es zuletzt gelungen, ihre Kräfte gegen Erdogans Regierung zu bündeln. Das zeigte sich besonders bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr: Verschiedenste Oppositionsparteien – Islamisten, Nationalisten, Sozialdemokraten und Linksliberale – haben erstmalig ihre Kräfte gegen den «gemeinsamen Feind» Erdogan vereint, trotz aller politischen Differenzen. Die Einigkeit der Opposition stellt neben der Wirtschaftskrise eine der größten Herausforderungen für den Machterhalt Erdogans dar.

Einige türkische Experten kommen daher zu der Einschätzung, dass die türkische Regierung versucht, mithilfe der äußerst sensiblen Kurdenfrage die Opposition zu spalten. Das Kalkül: Im vereinten Oppositionsblock reihen sich die republikanische CHP und die ultranationale IYI-Partei ein, die eine patriotisch bis nationalistische Wählerschaft hinter sich scharen. Eine zu kurdenfreundliche Politik und die Zusammenarbeit mit der HDP, die von der Regierung als «terroristisch» gebrandmarkt wird, könnte die Stammwählerschaft der beiden Parteien abschrecken.

«Die Ohrfeige der Demokratie»

Doch offensichtlich hat diese Spaltungsstrategie noch keinen Wirkungstreffer erzielt. Der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Kemal Kilicdaroglu, solidarisierte sich in dieser Woche erneut mit den HDP-Politikern; er kritisierte die Verhaftungswelle und betonte die gute Zusammenarbeit mit der nationalistischen IYI-Partei. «Unser Bündnis kann niemand zerstören. Wir werden immer gute Beziehungen haben», sagte er bei einer Rede im türkischen Parlament.

Gleichzeitig gab er sich kämpferisch mit Blick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen – die zwar für das Jahr 2023 angesetzt sind, möglicherweise aber vorgezogen werden könnten. «Wir werden dieses Spiel an der Wahlurne für uns entscheiden.» Wie bei den Kommunalwahlen in Istanbul werde die Regierung «die Ohrfeige der Demokratie einstecken müssen», so Kilicdaroglu: «Bei den nächsten Wahlen werden wir sie wegschicken.»

Daniel Derya Bellut & Hilal Köylü

qantara.de

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