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Der Schriftsteller und Kritiker Elias Khoury [de]

«Beirut hat sich immer gegen Repression aufgebäumt»

Lange Zeit blickten Kulturschaffende bewundernd auf den Libanon und sein Klima der Freiheit. Beirut empfing die arabischen Intellektuellen und feierte sie, als gäbe es keine Repression. Auch nach dem Mord an Luqman Slim sind die bestimmenden Kräfte im Land nicht in der Lage, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Ein Essay von Elias Khoury

Was ist der Unterschied zwischen einem Mord und einer Hinrichtung? Diese Frage bereitet dem Libanon Kopfzerbrechen. Schon vor dem Mord an Luqman Slim, und, so scheint es, auch auf unbestimmte Zeit danach. Die Frage zielt direkt auf die Situation der Kultur und der Kulturschaffenden im Libanon, in Ägypten und den Kernländern der arabischen Welt.

In der Vergangenheit war es ja eher so: Befreundete Kulturschaffende blickten mit Bewunderung, ja sogar Eifersucht auf uns Libanesinnen und Libanesen. Schließlich lebten wir in einem Klima der Freiheit. Würde ein Historiker eine große Erzählung der arabischen Kultur verfassen wollen, er könnte es rein durch eine Betrachtung des Verhältnisses der Intellektuellen zu Gefängnis und Exil tun. Das würde für die gesamte arabische Welt funktionieren – aber nicht für Beirut. Die Stadt ist anders, mit ihrem Klima der Freiheit, mit ihrer Fähigkeit, arabische Kulturschaffende zu umgarnen, die vor Willkür und Verfolgung hierher fliehen.

In der libanesischen Kulturgeschichte gibt es nichts, was sich mit den barbarischen Gefängnissen vergleichen ließe, wie sie die Syrer mit Tadmur, die Ägypter mit Bahariya, die Iraker mit dem Nafrat-Salman-Gefängnis und Abu Ghraib, die Libyer mit Abu Salim oder die Marokkaner mit Tazmamart erleben mussten.

Und seit dem Niedergang des Osmanischen Reichs ist es nicht mehr vorgekommen, dass libanesische Intellektuelle aus Angst ihr Land verlassen mussten. Dass einige von ihnen in die französische Sprache emigrierten, etwa Georges Shehadeh und Fouad Gabriel Nafaa, war keine Flucht, sondern vielmehr ein Hilfsmittel zu einem besseren Verständnis der Stadt. Sie begingen einen Weg zu einem Beirut, das ihnen dadurch noch einmal einen ganz anderen, besonderen Charakter offenbarte.

Durch Repression zur Prominenz

Wenn libanesische Schriftsteller einmal Repression oder Unterdrückung erlebten, so konnten sie so ihren Erfahrungsschatz ausbauen, manche von ihnen wurden dadurch sogar zu Berühmtheiten des sozialen Lebens – ohne dabei ihre Kreativität zu beeinträchtigen. Ich denke zum Beispiel an die Schriftstellerin Laila Baalbaki und ihrer Kurzgeschichtensammlung „Hanans Schiff zum Mond“, an Sadiq Jalal al-Azms Werk „Kritik des religiösen Denkens“, an den saudischen Intellektuellen Abdullah al-Qasemi und an den Roman „Garten der Sinne“ von Abdu Wazen. Ihren Höhepunkt erreichte die Unterdrückung zu dieser Zeit vermutlich im Jahre 1969, als Nidal al-Ashqars und Roger Assafs Theaterstück „Majdaloun“ mit Gewalt verhindert wurde. Kurzerhand zeigten die Schauspieler es im „Horseshoe Cafe“ auf der Hamra, der berühmten Straße im gleichnamigen Viertel von Beirut. Die libanesische Hauptstadt empfing die arabischen Intellektuellen, veröffentlichte ihre Werke und feierte sie, als gäbe es keine Repression.

Was wir im Libanon über die Unterdrückungserfahrungen anderswo gelesen hatten, ließ uns erschaudern. Wer könnte Faraj Bayrakdars „Verrat an Sprache und Sprachlosigkeit“, Mustafa Khalifas „Das Schneckenhaus“ (dt. 2019) und Ali al-Atassis Film „Cousin“ vergessen. Bayraktar und Khalifa beschrieben entsetzliche Erlebnisse im Gefängnis von Tadmur, der Film „Cousin“ ließ uns an der Erfahrung des syrischen Aktivisten Riad al-Turk in seiner Isolationshaft teilhaben, die uns wiederum an die Verhaftung von Farajallah al-Helou erinnert. Letzterer wurde durch den syrischen Geheimdienst ermordet und in ätzender Säure aufgelöst. Wer könnte „Östlich des Mittelmeers“ (dt. 1995) von Abd al-Rahman Munif vergessen und die Fülle an Gefängniserzählungen, welche die zeitgenössische arabische Literatur zum weltweiten Mittelpunkt des Genres gemacht haben.

Intellektuelle im Fokus

Beirut wurde von dieser Form von Repression zwar berührt, bäumte sich aber gleichsam dagegen auf. Selbst die Morde an den beiden großen libanesischen Journalisten Kamel Mrowa und Riad Taha, blieben, trotz ihres Schreckens, Ausnahmen. Doch mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs sollte sich das ändern.

Es waren vor allem zwei Elemente des Bürgerkriegs und seiner nach Konfessionen operierenden Milizen, die das Ende der Meinungsfreiheit besiegelten: die Entführungen und die Attentate. Die Entführungen setzten das Grauen in Gang. Tausende wurden einfach beseitigt – selbst 30 Jahre nach Kriegsende wissen wir nichts über das Schicksal von 17.000 Menschen. Weder, ob sie noch leben, noch, wo sie begraben wurden. Dann begannen die Attentate, sie wurden zu einem zentralen Merkmal des Machtkampfs der Bürgerkriegsparteien. Zwei Präsidenten, ein Premierminister und eine Reihe weiterer Politiker wurden ermordet. Beides geschah vor dem Hintergrund brutaler politischer und konfessioneller Säuberungen, etwa den Massakern von Tel al-Zaatar, Damour sowie Sabra und Shatila oder auch während des Harb al-Jabal, dem „Bergkrieg“.

Auf eine Weise spiegelte das libanesische Kriegsregime die arabische Welt insgesamt. Die Freiheit geriet ins Wanken, und nachdem der Libanon unter syrische Vormundschaft geraten war, begann der langsame Zusammenbruch der libanesischen Presse. Dieser Zusammenbruch erreichte mit der Entführung von Salim al-Lawzi, dem Inhaber der einflussreichen Wochenzeitung Al-Hawadith, und seiner grausamen Hinrichtung am 25. Februar 1980 einen Höhepunkt. Al-Lawzis Finger waren mit Säure verätzt worden.

In den langen Wendungen des Bürgerkrieges gerieten auch linke Intellektuelle in den Fokus: Hussein Mrowa, Hassan Hamdan (bekannter unter seinem Pseudonym Mahdi Amel) und Suhail al-Tawila wurden ermordet. Es war die Zeit, als das syrische Hegemoniestreben eine allumfassende Attacke auf die Linke fuhr, und auf Beirut selbst. Mit der Ermordung von Rafik Hariri am 14. Februar 2005 und dem syrischen Abzug im gleichen Jahr begannen erneut die Festspiele des Todes. In diesen Tagen erschien der Libanon wie eine einzige Hinrichtungswand.

Am 2. Juni 2005 wurde der Journalist Samir Kassir exekutiert, nur drei Wochen später, am 21. Juni, auch der Politiker George Hawi. Der Tötungszyklus, der am 17. Februar 1987 mit der Ermordung von Hussein Mrowa begonnen hatte, war abgeschlossen. Nach den beiden Attentaten auf Samir Kassir und George Hawi waren es weniger nur Ermordungen, sondern vielmehr Hinrichtungen. Journalisten, Politiker und Sicherheitsbeamte, die sich gegen die syrische und iranische Hegemonie stellten, wurden getötet. Erst im Jahr 2013 hörten die Attentate auf.

“Warum habt ihr ihn nicht eingesperrt?“

Hat nun die Ermordung – oder Hinrichtung – von Luqman Slim den Libanon wieder in die Spirale des Todes zurückgeworfen? Am Tag nach dem Tod von Samir Kassirs gingen wir zum Flughafen, um Giselle Khoury zu treffen, seine Frau. Sie war auf einer Geschäftsreise im Ausland gewesen. Das erste, was sie bei ihrer Ankunft am Flughafen Beirut sagte, war: „Warum haben sie ihn getötet? Sie hätten ihn doch einsperren können. Warum haben sie ihn nicht eingesperrt?“

Ein spontaner Satz aus einem von Trauer verwundeten Herzen. Er fasst die Geschichte unseres Libanon zusammen: In der Heimat der Milizen und unter der Herrschaft der Waffen kann es so etwas wie Gefängnisse gar nicht erst geben. Nun waren wir es, die unsere arabischen Schwestern und Brüder um ihre elenden Gefängnisse beneideten. Unser Ehrgeiz wurde es, unterdrückt zu werden, aber wenigstens nicht tot. Aber seit sich das Militär in seiner Brutalität den Milizen angeglichen hat, ist die gute alte arabische Repression nicht mehr verfügbar. Und indem sie das Töten industrialisierten, übertrafen die Regime die Milizen noch.

Was nun im Libanon geschehen ist, war kein Attentat. Ja, wir mögen im Arabischen vor dem Wort erzittern, schließlich verweisen die sprachlichen Wurzeln des Wortes „Attentat“ auf den Ghul, das Menschen fressende Wesen aus der Mythologie. Und doch ist ein Attentat ein lokal begrenzter Prozess, der mit seiner Ausführung endet. Hier aber stehen wir vor einer Serie an Taten, die eben nicht endet, in einem Land, das unfähig ist, den Mörder zu benennen oder gar zu bestrafen. Bis jetzt schweigt die libanesische Justiz, und das wird auch so bleiben. Niemand wird auf die Ergebnisse der Untersuchung – welch zynisches Wort in diesem Zusammenhang – warten. Aber wenn dieses Töten kein Attentat ist, wie nennen wir es dann? Es ist eine Hinrichtung.

Eine Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren. Eine Hinrichtung, die weder Macht noch Ohnmacht zeigt. Die Kraft im Libanon, in deren Hand die Waffen und die Politik liegen, die Hisbollah, vermag es nicht, alle Lebensbereiche zu kontrollieren. Aber wer nicht die Kultur in all ihren Aspekten kontrolliert, wird auch die Gesellschaft nicht bändigen können.

Nun fordert jeder eine Untersuchung des Mordes an Luqman Slim, aber ebenso weiß jeder, dass es diese Untersuchung nicht geben wird. Was soll das? Warum entpuppt sich der Staat, der gewöhnlich Demonstranten im ganzen Libanon verhaftet und einschüchtert, angesichts eines Mordes plötzlich als derart machtlos?

Am Abend des 4. Februar 2021 wurde Luqman Slim entführt und sein Körper in der Dunkelheit unserer langen libanesischen Nacht zurückgelassen. Es war eine Hinrichtung ohne Zeugen, denn der einzige Zeuge, er selbst, ist zum Märtyrer geworden.

Elias Khoury

© Qantara.de 2021

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